Gruppen von Italienern auf den Bahnhöfen – das ist ein Bild, das bei vielen Deutschen fest mit der Erinnerung an die ersten italienischen „Gastarbeiter“ verbunden ist. Italienische Männer, die zusammen standen, mit großen Gesten laut durcheinander redeten und den jungen Mädchen hinterher pfiffen.
In den ersten Jahren nach Abschluss des Anwerbevertrags kamen hauptsächlich italienische Männer nach Deutschland. Viele von ihnen waren Junggesellen. Diejenigen, die verheiratet waren, kamen meist alleine, weil sie nur kurze Zeit in Deutschland arbeiten wollten. Der größte Teil des verdienten Geldes war für die Familie in Italien bestimmt. Für das Leben in Deutschland blieb nicht viel übrig:

„5,80 DM täglich = 174,- DM monatlich sind für die deutsche Lebensweise nicht viel, aber der Italiener rechnet in ca. 26.000 Lire, von denen in der Heimat seine ganze Familie einen Monat lang leben könnte. Deshalb will der Italiener gern bescheidener leben, um mehr für seine Familie erübrigen zu können.“

Bericht des Sozialfürsorgers der Caritas Mario de Matteis, Anfang der 1960er Jahre

Archiv des deutschen Caritas Verbandes e.V., Signatur 380.211.059 Fasz. 01

Kino- oder Kneipenbesuche wollten sich viele nicht leisten. Neben den Unterkünften blieben nur die Bahnhöfe als billige Treffpunkte. Vereine oder Ähnliches gab es noch nicht für Italiener. Bahnhöfe lagen in der Regel zentral, für jeden erreichbar, so dass sich alle dort treffen konnten. Neuankömmlinge wurden begrüßt, Neuigkeiten ausgetauscht. Von hier startete man auch zu gemeinsamen Ausflügen.
Einen Luxus gönnten sich aber doch etliche der alleinstehenden Italiener: Tanzen gehen. Bei diesen Gelegenheiten lernten sie auch deutsche Frauen kennen. Häufig sahen sich deutsche Männer durch diese Konkurrenz in den Hintergrund gedrängt. Handgreifliche Konflikte zwischen Deutschen und Italienern führten dazu, dass manche Kneipenwirte Italienern Lokalverbot erteilten.
Auf deutscher und auf italienischer Seite wurde immer wieder das Problem der moralisch-sittlichen Gefährdung der allein lebenden italienischen Männer in Deutschland angesprochen. Die deutschen Stellen sahen vor allem eine Gefahr für die Moral der deutschen Mädchen:
„[...] Die Kehrseite der Medaille zeigt ein Heim in Grevenbroich, dessen junge Insassen zum grossen Teil uneheliche Kinder deutscher Mädchen sind, Kinder deren Väter - ausländische Gastarbeiter - sich wieder in die Heimat abgesetzt haben. [...]“

Ruhrnachrichten 10.01.1964, Gastarbeiter isolieren sich in Baracken-Zentren

Auf italienischer Seite gab es dagegen Stimmen, die beklagten, dass die jungen Italiener fern der Heimat die Daheimgebliebenen vergaßen:
„[...] Giovanna Jabichella ist eine der annähernd 500 000 so genannten weißen Witwen Italiens, deren Männer auf Arbeitsuche ins Ausland gingen, dann noch eine Zeitlang schrieben und zumeist auch Geld schickten, schließlich aber nichts mehr von sich hören ließen.[...] In der Regel ist es eine fremdländische Frau, die den Emigranten seine Familie vergessen läßt. Beichtete ein Gastarbeiter in Rosenheim: „[...] Eines Sonnabends kam dann eine der Reinemachefrauen zu mir und sagte: ‚Du hast ja völlig zerrissene Strümpfe. Wenn du willst, stopfe ich sie dir.’ Da vergaß ich Frau und Familie.“ Nach den Unterlagen des ANFE [Nationaler Verband der Familien der Ausgewanderten] sind die allein stehenden Italiener in Deutschland, Frankreich und Südamerika besonders gefährdet, weil die Frauen in diesen Ländern als sehr zugänglich gelten. [...]“

„Weiße Witwen“, in: Der Spiegel, Nr. 13/1966

Religiöse Betreuung
Um die seelsorgerische, aber auch die sittlich-moralische Betreuung der italienischen Emigranten im Ausland kümmerten sich italienische Priester. Diese Arbeit der katholischen Kirche Italiens ist so alt wie die Tradition der Auswanderung aus Italien selber. Bereits im 19. Jahrhundert wurden Priester für die Seelsorge der Italiener nach Nordeuropa und nach Amerika geschickt. In den 1950er Jahren führte die Kirche diese Arbeit fort. In den größeren Städten des Ruhrgebiets wurden – wie in der ganzen Bundesrepublik – katholische Zentren eingerichtet: die Missione Cattolica Italiana. Italienische Priester, häufig Ordensbrüder, übernahmen die seelsorgerische Betreuung für mehrere Gemeinden. Die italienischen Missionen waren und sind an die Bistümer in Essen, Paderborn und Münster angeschlossen.
Vor allem seit dem verstärkten Familiennachzug in den 1960er Jahren entwickelten sich die Missionen zu lebendigen Gemeindezentren. Mit Sprachkursen, Hausaufgabenbetreuung, Nähkursen oder Folklore-Tanzgruppen boten sie weit über die religiöse Betreuung hinaus Unterstützung in der Fremde und gleichzeitig immer auch Brücke in die Heimat.
Ein anderes Betätigungsfeld für die Gemeinden war die Sozialberatung. Das deutsche Steuer-, Renten- und Krankenkassensystem war für die meisten Italiener kaum durchschaubar. Hinzu kamen Sprachprobleme. Um in diesen Fragen zu helfen, übernahmen die italienischen Missionen zusammen mit dem Sozialdienst für Italiener der Caritas und der italienischen ACLI auch die soziale und arbeitsrechtliche Beratung der Emigranten. Italienische Fürsorger betreuten dabei zum Teil riesige Gebiete:
„[...] Der Sozialfürsorger, Mario de Matteis [...] betreut die italienischen Arbeiter im östlichen Teil des Ruhrgebiets mit den Hauptzentren Dortmund, Bochum, Hagen, Castrop-Rauxel, Witten usw. und im übrigen Teil der Diözese Paderborn, die sich ungefähr von Siegen und Olpe bis nördlich von Bielefeld und Detmold erstreckt. In diesem Gebiet waren im Jahre 1960 laut offizieller Statistik ungefähr 6000 italienische Arbeiter beschäftigt. [...]“

Bericht über den Stand der Betreuung italienischer Arbeitskräfte in der Bundesrepublik; 2. Februar 1961; Dr. Giacomo Maturi, Referent des Deutschen Caritasverbandes für die Betreuung ausländischer Arbeiter

Archiv des Deutschen Caritasverbandes 380.21.059 Fasz. 01

„[...] Eine weitere Notwendigkeit läge in einer kulturellen Betreuung. Immer wieder, so berichten unsere Fürsorgerinnen, begegneten sie abends, samstags und sonntags italienischen Gruppen, die niedergeschlagen erschienen, die mit ihrer Freizeit nichts anzufangen wußten. Dies galt in besonderem Maße von jenen (in der Industrie oder Bauwirtschaft arbeitenden) Italienern, die in Sammelunterkünften untergebracht waren. [...]“

Bericht über die im Jahre 1956 vom DCV geleistete fürsorgerische Betreuung italienischer Saisonarbeiter; 2. Januar 1957; Prof. Dr. Rudolf Lange

Archiv des deutschen Caritas Verbandes e.V., Signatur 380.21.059 Fasz. 01

Die italienischen Sozialbetreuer richteten Treffpunkte für Italiener ein und organisierten Filmvorführungen und Sportveranstaltungen. Durch dieses Angebot gab es schließlich günstige Alternativen zu den Bahnhofstreffs.
Radiosendungen für Italiener
Am 1. Dezember 1961 startete der WDR in Köln sein italienischsprachiges Programm „Trassmissione per gli Italiani in Germania“ („Sendung für Italiener in Deutschland“). Der WDR sendete täglich 15 Minuten. Auch der Saarländische und der Bayerische Rundfunk hatten bereits Programme für Italiener in Deutschland eingerichtet. Die deutschen Rundfunkanstalten reagierten damit u. a. auf die italienischen Sendungen von „Radio Prag“. Die Angst vor kommunistischer Infiltration der in Deutschland lebenden Italiener trieb die deutschen Behörden in dieser Zeit des „Kalten Krieges“ immer wieder um. Darum war ein Ziel des „Trassmissione“-Programms Aufklärung über die politische Lage der Bundesrepublik. Weiterhin sollte das Programm aktive Lebenshilfe bei ausländerspezifischen Problemen geben:
„[...] So werden sich die Sendungen u. a. mit Problemen der deutschen Steuergesetzgebung, mit Fragen des Versicherungswesens und vielen anderen sozialen und rechtlichen Themen befassen, mit denen die oft sprachunkundigen Italiener allein nicht fertig werden. [...]“

Ab 1. Dezember täglich: „Buena sera, Collega!“, in: Rheinische Post, 30.11.1961.

Aber nicht nur Deutschland stand im Mittelpunkt der Berichterstattung, sondern auch die aktuelle Situation in Italien:
„Wir wollen den Italienern die Prinzipien Deutschlands näher bringen und auf der anderen Seite wollen wir die Brücke zur Heimat aufrecht erhalten, das heißt, ihnen Italien präsent halten, in seiner Vielfältigkeit, seiner Entwicklung – politisch, sozial, kulturell. Nicht nur um ihnen Möglichkeiten zur Rückkehr zu zeigen, sondern auch, damit sie sich stolz fühlen können als Italiener, Bürger eines Landes mit einer großen Kultur.“

O-Ton-Transkription Jochen Riedel, Leiter der Fremdsprachensendungen und der Italien-Redaktion, WDR-Zeitzeichen, Stichtag: 1.12.1961 – Erste Gastarbeitersendung im WDR.

Die Programme der deutschen Rundfunkanstalten sendeten bald erheblich länger und erreichten hohe Einschaltquoten.
Das deutsche Bild der italienischen Einwanderer war in den 1950er/60er Jahren teilweise sehr negativ geprägt. Viele Deutsche konnten den Kriegsaustritt Italiens im September 1943 nicht vergessen und beschimpften die angeworbenen Italiener in den 1950er Jahren als „Badoglio-Verräter“. Italiener galten als unzuverlässig. Vor allem fremde Gewohnheiten und Verhaltensweisen, die sich von denen der Deutschen unterschieden, wie bspw. die Jagd auf Singvögel, wurden misstrauisch beobachtet. Berichte über „heißblütige“ Italiener, denen das Messer locker saß, verfestigten ein negatives Italienerbild bei vielen Deutschen. Auf der anderen Seite wurde in den 1950er Jahren ein sehr romantisches Italienerbild populär, beeinflusst vor allem durch die Schlagermusik. Vicco Torriani, Caterina Valente und Rocco Granata gehörten zu den beliebtesten Schlagerstars in Deutschland. Die italienischen Stars prägten maßgeblich das deutsche Italienbild der 1950er/60er Jahre mit. Gleichzeitig entdeckten die Deutschen Italien als liebstes Urlaubsziel. Der Massentourismus an die italienischen Strände setzte bereits Mitte der 1950er Jahre ein. Trotz dieser „Italienbegeisterung“ änderte sich erst allmählich das Bild der Italiener in Deutschland. Die gemeinsame Arbeit als Kollegen im Betrieb und die Nachbarschaft zu Hause führten dazu, dass man sich aneinander gewöhnte und kennen lernte. Und von ihren Reisen nach Italien brachten einige Deutsche ein besseres Bild von Italienern mit, das sie dann auch auf die Italiener in Deutschland übertrugen.

Anke Asfur, Aachen 2005

Literatur zum Thema:
- Yvonne Rieker: „Ein Stück Heimat findet man ja immer”. Die italienische Einwanderung in die Bundesrepublik,
Essen 2003
- Neapel – Bochum – Rimini. Arbeiten in Deutschland. Urlaub in Italien, hrsg. v. Anke Asfur und Dietmar Osses,
Essen 2003
- Caritas im Dienste der Italiener. 100 Jahre Sozialdienste für Italiener in Deutschland, hrsg. v. Deutschen Caritas-Verband e.V., o. O., 1996
- Karen Schönwälder: Einwanderung und ethnische Pluralität. Politische Entscheidungen und öffentliche Debatten in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland von den 1950er bis zu den 1970er Jahren, Essen 2001