Bergbaukrise
Nach Jahren des Wachstums trat 1958 die erste Bergbaukrise ein. Die Kohle bekam Konkurrenz auf dem Energiemarkt: Mineralöl wurde deutlich billiger gewonnen und fand immer mehr Abnehmer. Die Zechen wurden ihre Kohle nicht los, 13,8 Mio. t mussten 1958 auf Halde gelegt werden. Angesichts des sinkenden Kohlenabsatzes kam es zu ersten Entlassungen, von denen auch die Italiener mit ihren kurzfristigen Arbeitsverträgen betroffen waren. Diese erste Krise beunruhigte die Belegschaften der Zechen:
„[...] Die Sorge um den vermeintlich unsicher gewordenen Arbeitsplatz einerseits und der Mangel an Arbeitskräften in der übrigen Wirtschaft auf der anderen Seite veranlaßten eine große Anzahl von Belegschaftsmitglieder, in andere Berufe abzuwandern […] in besser bezahlte Berufe oder in solche mit besseren Arbeitsbedingungen […] Von dem Sog der übrigen, im Gegensatz zum Bergbau gut beschäftigten Industrie wurden besonders die ausländischen Belegschaftsmitglieder […] erfaßt. Viele von ihnen ließen sich auch von der von den Ausländerämtern zur Auflage gemachten Bindung der Aufenthaltgenehmigung an die Beschäftigung im Bergbau nicht zurückhalten.[...]“

Jahresbericht 1959 der Abteilung „Einsatz Ortsfremder Arbeitskräfte“ der Zeche Concordia in Oberhausen

Bergbau-Archiv Bochum, 30/144

Die Abwanderung der Belegschaft wurde direkt im folgenden Jahr zum Problem, als sich der Bergbau wirtschaftlich noch einmal erholte.
„[...] Von größter Wichtigkeit war es daher, zunächst einmal die im Verlaufe der Krise abgewanderten Arbeitskräfte zu ersetzen. Die Vollbeschäftigung auf dem deutschen Arbeitsmarkt ließ es von vorne herein aussichtslos erscheinen, die benötigten Arbeitskräfte aus der Bundesrepublik heranzuholen. Der Bedarf an Arbeitskräften konnte somit nur, wie bereits in den Vorjahren, durch Ausländer gedeckt werden. [...] Unserem Antrage entsprechend konnte diese Werbung September/Oktober 1960 in den uns bereits seinerzeit zugeteilten Arbeitsamtbezirken Cartania Enna, Caltanissetta und Agrigento auf Sizilien durchgeführten werden, mit dem Erfolg, daß sich 655 Mann bereiterklärten, die Arbeit bei uns aufzunehmen. [...]“

Jahresbericht 1960 von der Abteilung „Einsatz Ortsfremder Arbeitskräfte“ der Zeche Concordia

Bergbau-Archiv Bochum, 30/144.

Die Italiener wurden zur „manövrierfähigen“ Masse: Bei guter Konjunktur wurden sie angeworben, bei schlechter nach Italien zurück geschickt:
„[...] Die Kohlenhalden vor den Zechentoren im Revier drücken nicht nur auf die Gemüter der deutschen Bergleute. Auch die Italiener machen sich ihre Gedanken. Gerüchte kreisen unter ihnen. „Wir sind die ersten, die entlassen werden“, hört man sie flüstern. Auch sie haben Verpflichtungen hier übernommen und werden ängstlich. Zu allem gab es schon in Betriebsversammlungen Stimmen, welche die ausländischen Arbeiter für das Anwachsen der Halden mitverantwortlich machen wollten.[...]“

„Bottrop ist nicht Palermo...“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 14.11.1958

Vor dem Hintergrund der ersten Zechenschließungen wechselten schließlich auch die italienischen Bergleute lieber in andere Branchen. Im Ruhrgebiet gab es in der Bauwirtschaft und in der Eisen- und Stahlindustrie noch genügend Arbeitsplätze, die sogar besser bezahlt waren und zudem nicht so schwere und gefährliche körperliche Arbeit verlangten. Die Zahl der italienischen Bergleute ging deutlich zurück: 1960 arbeiteten noch 3.944 Italiener im deutschen Steinkohlenbergbau, 1970 waren es nur noch 958. Diejenigen, die im Bergbau blieben, beklagten den zunehmenden Leistungsdruck unter Tage. Das Gedinge wurde erhöht, das heißt die Bergleute mussten pro Schicht mehr Kohle fördern. Dieser Druck ging manchmal auch zu Lasten der Sicherheit.

 

Die Türken kommen

Die Anwerbung ausländischer Arbeiter beschränkte sich bald nicht mehr nur auf Italien. Die Bundesrepublik schloss 1960 Abkommen mit Griechenland und Spanien, 1961 mit der Türkei, 1963 mit Marokko, 1964 mit Portugal. So wie die italienischen Neubergleute Ende der 1950er Jahre von den Deutschen angelernt wurden, lernten sie wiederum die neuen ausländischen Kollegen an. Griechen, Türken und Marokkaner lösten die Italiener allmählich im Bergbau ab. Bildeten die Italiener 1961 mit 4.617 Arbeitern die größte ausländische Gruppe im deutschen Steinkohlenbergbau, so waren dies bereits ein Jahr später die Griechen und seit 1963 türkische Bergarbeiter. Aus der Türkei kamen weit mehr Arbeiter in den Bergbau als aus Italien, 1964 waren schon 10.199 Türken im deutschen Steinkohlenbergbau beschäftigt.
Viele ehemalige italienische Bergleute fühlen sich auch nach der Abkehr dem Bergbau, der ihnen zumindest zeitweise eine gesicherte Existenz geboten hat, noch heute verbunden. Wie ihre deutschen Kollegen pflegen auch sie die Symbole der alten Bergmannstradition von der Grubenlampe und dem Kohlenbrocken mit Uhr im Wohnzimmer bis zur mit Blumen bepflanzten Lore vor dem Haus.

Anke Asfur, Aachen 2005

Literatur zum Thema:
- Dietmar Petzina: Wirtschaft und Arbeit im Ruhrgebiet 1945 bis 1985, in: Wolfgang Kölman u.a. (Hg.): Das Ruhrgebiet im Industriezeitalter, Bd. 1, Düsseldorf 1990, Seiten 491–567
- Jean-Luc Malvache: Die Beschäftigung angeworbener ausländischer Arbeitskräfte im Steinkohlenbergbau 1957-1965 – unter besonderer Berücksichtigung der Bergbau-Aktiengesellschaft Lothringen (BAGL), in: Die drei großen Herren und die anderen, hrsg. v. Bochumer Kulturrat, 2. Aufl. Bochum 1999, S. 207-225
- Knuth Dohse: Massenarbeitslosigkeit und Ausländerpolitik, in: Klaus J. Bade (Hg.): Auswanderer – Wanderarbeiter – Gastarbeiter. Bevölkerung, Arbeitsmarkt und Wanderung in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Ostfildern 1984, S. 657-672
- Yvonne Rieker, Ein Stück Heimat findet man ja immer / Die italienische Einwanderung in die Bundesrepublik, Essen 2003